LUCY_DREAMS_AUSSTELLUNGSANSICHT1

ANJA KORHERR
Lucy Dreams

Werke

 

Ausstellung von 26. September 2024 bis 06. März 2025

Fehler in der Matrix?
Zur Malerei von Anja Korherr

Die klassische Kunstgeschichte hat das Problem des Raumes ins Zentrum gestellt. Wie kann man sich Dreidimensionalität in der Kunst vorstellen? Wie kommt sie vor und unter welchen Bedingungen erleben wir welche Raumerfahrung? Aus heutiger Sicht ist der digitale Raum, der Cyberspace, das, was uns nicht nur innerhalb der Künste bestimmt, sondern auch im täglichen Leben. Wir gehen heute grundsätzlich von einer vielschichtigen und komplexen Idee des Räumlichen aus. Das Visuelle hat sich unabhängig von den Erkenntnissen der Kunstgeschichte weiter ausdifferenziert. War in der Frührenaissance die Entdeckung der Perspektive ein wahrer Paradigmenwechsel, so müssen wir aktuell feststellen, dass diese Methode der Illusionsbildung erst der Anfang war und man in der Folge Räumlichkeit unterschiedlich mit Bedeutung versehen hat.

Die Verschiedenheit der Künste zeigt uns drei Grundprobleme, die Kurt Badt definiert: „In der Architektur geht es um Gestaltung des Raumes, in der Plastik um das Verhalten zum Raum, in der Malerei um Entfaltung des Raumes mit künstlerischen Mitteln.“¹ Während Architektur und Plastik sich direkt mit dem Raum, gleichsam dem real erfahrbaren Raum beschäftigen, geht die Malerei von der Illusion des Raumes aus – sie erzeugt demnach erst Räumlichkeit. Dabei ist auffallend, dass die Malerei, indem sie Körper darstellt – egal ob abstrakte oder gegenständliche –, immer auch Raum darstellt. Die Raumillusion funktioniert somit immer über Gegenstände bzw. Körper, auch in der Tradition der Landschaftsmalerei. Denn auch dort brauchen wir Elemente oder Versatzstücke, die in besonderer Ausformung und Anordnung zueinander – bspw. indem sie nahe neben fernen Körpern erscheinen und die Atmosphäre als Körper im Licht sichtbar werden – verantwortlich sind für die Raumerzeugung.

Die Moderne hat sich allerdings nicht mehr bemüht, die Raumerfahrung als grundsätzliches Element der Realitätswahrnehmung anzusehen. Die Abbildung der sichtbaren Welt war plötzlich zugunsten einer eigenen Realität der Malerei bestimmend geworden. Das erscheint als Konsequenz aus der Tatsache, dass die Malerei ohnehin den Raum illusioniert, nicht verwunderlich. So hat man es oft unternommen, den Kubismus als Versuch aufzufassen, die natürlichen Defekte des menschlichen Sehens zu kompensieren. Kubistische Bilder zeigen Dinge simultan, wie man sie in der Wirklichkeit nur durch Bewegung und Tasten gleichzeitig erleben kann. Man muss aber erkennen, dass unser Sehen auch durch Aspekte der Erinnerung geprägt ist. Wenn beispielsweise ein Gegenstand einen anderen teilweise verdeckt, so können wir dessen Kontur im Versteckten weiter imaginieren, obwohl er physisch nicht sichtbar ist. Wir bleiben uns des Fortbestandes halbverdeckter Gegenstände bewusst. Die Erinnerung an optische, haptische und kinetische Erlebnisse ist am Zustandekommen unserer visuellen Wahrnehmung somit mitverantwortlich. Die kubistische Malweise, die sich auch im Futurismus oder im Rayonismus zeigt, hat laut Ernst Gombrich versucht, „jene Transformationen auszuschalten, die mit jeder illusionistischen Deutung unwillkürlich verbunden sind.“² Die kubistische Methode bestand dabei darin, so Gombrich, „so viele einander widersprechende Elemente in das Bild einzuführen, dass jeder Versuch, es einer Prüfung auf Folgerichtigkeit zu unterwerfen, von vornherein aussichtslos sein musste. Sosehr wir uns auch bemühen mögen, Gegenstände wie die Gitarre oder den Krug auf diesen Bildern dreidimensional zu sehen und sie dadurch umzugestalten, gelingt es uns doch nie. Immer wieder stoßen wir auf einen Widerspruch, der uns zwingt, von neuem zu beginnen.“³

Die Entwicklung der technischen Bilder – von Foto über Film bis zum Digitalen – hat uns bis heute zusätzlich an den Anblick unmöglicher Welten gewöhnt. M. C. Escher (1898–1972) hat es beispielsweise geschafft, dass wir seine Darstellungen zunächst als vollkommen richtig erachten. Indem wir aber versuchen, uns über die beabsichtigten Beziehungen zwischen einzelnen Gegenständen und Aspekten im Bild klar zu werden, entdecken wir das Paradoxe und Widerspruchsvolle der Gestaltung. 

Es ist daher naheliegend gewesen, die illusionistischen Räume mit den realen Räumen zu verbinden. Die Fortführung der Malerei in den Raum hat eine lange Tradition, die von Beginn an den Raum als erweiterte Sphäre des Gemäldes begriff – El Lissitzky (Prounenraum, 1923), Piet Mondrian (Salon Madame B, 1926), Marcel Duchamp (Porte, rue Larry 11, 1927), Kurt Schwitters (Merzbau, 1933) oder später die Gestaltung der „Internationalen Ausstellung des Surrealismus“ (1938) in Paris. Das sind gleichsam die Referenzbeispiele, wenn es um die frühesten Malereiräume geht.

Anja Korherr vollzieht jedoch den Schritt vom Gemälde in den Raum in ihrer Arbeit nicht. Sie bleibt im illusionistischen Schema des Bildes. Die Gemälde der jungen Künstlerin muten zwar sehr naheliegend an. Die Referenz zu den wesentlichen Formulierungen der Moderne – Kubismus, Futurismus oder Rayonismus – sind zweifellos erkennbar, erschöpfen sich aber keineswegs darin. Der Bezug zur Kunstgeschichte ist für sie gleichsam eine Methode, das Bekannte umzudeuten, neu zu erleben. Dabei geht Korherr vielschichtig vor. In realen Raumsituationen, die mit verschiedenen Gegenständen oder Versatzstücken ausgestattet sind, lässt die Künstlerin Akteur*innen auftreten, denen weder gesagt wird, was sie tun sollen, noch wie das auszuführen sei. Sie beobachtet das Geschehen und hält es in fotografischer Form fest. Aus den unzähligen Aufnahmen baut sie in einer nächsten Phase ihre Bildprogramme. Der performative Akt, der zwar Basis für das Bild ist, verliert sich im Gemälde wieder. Allerdings entsteht durch die Kombinationen und Verschachtelungen gewisser Elemente eine Art Gleichzeitigkeit. Viele fotografische Bilder erzeugen damit ein einziges Gemälde. Durch unterschiedliche Untermalungen bzw. Grundierungen – beispielsweise durch Leuchtfarben – entstehen außerdem spezielle Lichtsituationen. Diese wiederum sind imstande, die neu entstandene Szenerie zu vereinheitlichen, sie aber gleichzeitig auch in eine surreale, traumhafte Realität zu versetzen. Die Logik von Traumbildern oder anderen inneren Bildern (Gedanken- oder Erinnerungsbildern) ist für die Künstlerin wichtig. Nicht zuletzt beschäftigt sie sich intensiv mit sogenannten Klarträumen, in denen sich die träumende Person bewusst ist, dass sie träumt. Auf diese Weise lassen sich Traumsequenzen sogar beeinflussen. In diesem Fall ist man an der Entstehung und Steuerung der Traumbilder gleichsam direkt beteiligt und wird selbst zum Medium. Korherr geht aber nicht direkt von selbst erlebten Bildern aus, vielmehr bedient sie sich ihrer Logik, ihrer Funktionsweisen. 

Wie im zuvor beschriebenen kubistischen Bild sind auch hier Unmöglichkeiten plötzlich möglich. Was hier deutlich wird, ist die Tatsache, dass das Bild nomadisiert. Es gibt also mehrere Orte des Bildes. Die endogenen, also Traum-, Erinnerungs- und Gedankenbilder, nehmen einen Ort des Bildes ein, die reale Umsetzung, gleichsam die Konkretisierung in einem Bildmedium, ist ein anderer Ort des Bildes. Dabei ändert sich, je nach technischer Entwicklung, das Trägermedium: das Tafelbild zuerst, dann die technischen Bildmedien – Monitore, Projektionen. In Korherrs Malerei ist trotz der scheinbaren Konventionalität das Bewusstsein der digitalen Bildstrukturen inhärent. Da die Bildinformation im digitalen Bild elektronisch gespeichert ist, werden alle Punkte des Bildes (Pixel) zu Variablen. Durch die Virtualität der Speicherung kann jede Information in Echtzeit geändert werden – das geschieht sowohl von außen (Betrachter*in) als auch von innen (Maschine). Damit wird das Bild selbst zu einem dynamischen System aus Variablen und das statische Bild wird zu einem dynamischen Bildfeld. Das alles sieht man nicht in Korherrs Gemälden. Man spürt es, aber man kann sich dem aufgrund unseres heutigen Wissenstandes nicht mehr entziehen. Somit sind ihre Bilder auch dadurch gleichsam in Bewegung. Kraftlinien und perspektivische Variationen, wie sie beispielsweise in der Malerei des Futurismus praktiziert wurden, unterstützen diesen Vorgang. 

Anja Korherr baut zu Beginn tatsächliche Sets auf. Diese Szenerien erinnern an Bühnenbauten, aber auch an Filmsets. In der Filmarchitektur war die Raumwahrnehmung ein zentraler Impuls – die intensive Beziehung zwischen Architektur und Bild. Man denke nur an die bahnbrechenden Filme Metropolis (1925) von Fritz Lang, The Fountainhead (1949) von King Vidor oder L’Inhumaine (1923) von Marcel L’Herbier und Les Mystères du château du dé (1929) von Man Ray. Die filmische Wahrnehmung des Räumlichen verwandelt die dreidimensionalen Strukturen der Architektur gleichsam in die Zweidimensionalität der Bildform des Raumes. Fiktive bzw. abstrahierte Architektur- und Raumvorstellungen sind damit erklärbar. Die reale Architektur löst sich in der filmischen Raumgestaltung auf und bekommt im Kamerabild eine neue Realität. Somit kann man in Anja Korherrs Fall feststellen, dass sich auch dort die reale Ebene des zuvor gebauten Sets auflöst und in der Realität der Malerei neu entsteht. Dabei ändern sich nicht nur formale Aspekte, sondern auch Bedeutungs- und Funktionszusammenhänge.

Man kann die Begrifflichkeit des Raumes in Korherrs Fall auch noch weiter ausdehnen. Dabei wären neben den formalen Kriterien auch ideelle Faktoren zu beachten. Anja Korherr legt zwar in der Phase des Sets keinen Inhalt fest. Die Darsteller*innen sind nicht definiert, haben keine sichtbare Rolle wie im tatsächlichen Leben. Sie sind gleichsam Versatzstücke. Trotzdem aber können wir diese Menschen nicht unschuldig, nicht unbefangen sehen. Wir suchen nach Beziehungen, nach Hierarchien oder nach Bestimmungen, denen diese Figuren folgen. Die Objekte, mit denen sie hantieren, die sie betrachten, die ihnen beigestellt sind, sagen wenig darüber aus. Sie verunklären eher noch weiter. Oft glaubt man die Inhalte zu erkennen und die Dynamiken zwischen den dargestellten Personen sofort entschlüsselt zu haben. Jedoch wird man, wie im kubistischen Raumerlebnis, enttäuscht, wenn man zu sehr an die konventionellen Seherfahrungen und an einen rationalen Bildinhalt glaubt.

Was machen diese Menschen da? Worin sind sie gefangen? Sie wirken oft wie in überdimensionalen Laboranlagen arbeitend, forschend oder selbst am Prüfstand stehend. Gleichzeitig sind sie aber auch in einem Raum, den man als Bar identifizieren könnte. Vor und hinter der Bar existieren zwei völlig unterschiedliche Seinsformen. Der Raum vor der Bar ist ein kollektiver Raum. So nicht ein einsamer „Nighthawk“ am Tresen steht, sind es meist mehrere Leute, eine Gruppe, die nicht notwendigerweise zusammengehört, die vielmehr aus unterschiedlichen Sozietäten besteht, die sich da sammeln. Hinter der Bar kann es mitunter einsam sein. Oft ist dort eine einzige Person, die mit den unterschiedlichen Gruppen ihr gegenüber interagiert. Ein in höchstem Grad psychologischer bzw. sozialer Raum entsteht da. Anja Koherr kennt diesen Kosmos aufgrund ihrer Joberfahrung hinter diversen Bars sehr gut. Sie stellt keine direkten Studien an, die man von einer derartigen Versuchsanordnung ableiten könnte. Sie verarbeitet dieses Schauspiel mit all seinen Facetten unbewusst. Es ist eine monumentale performative Struktur, in der sie sich wiederfindet. Die Gleichzeitigkeit der Charaktere und die Unbestimmtheit der räumlichen Struktur – durch Spiegel und Beleuchtung noch gesteigert – können helfen, Anja Korherrs Bilder zu verstehen.

Auf sehr spannende Weise verdichtet die Künstlerin all diese Aspekte zu einem Kosmos, der nicht selten verunsichert. Der facettierte bzw. fragmentierte Raum unterstützt diesen Aspekt zusätzlich. 

Die Errungenschaften der Kunstgeschichte in Ehren, aber sie sind nur das Eingangstor in eine fiktive Welt mit sehr realistischen Bezügen. Die Welt als Bild (Anders, Baudrillard, Virilio) ist eine Tatsache, die unser Bewusstsein prägt, die uns oft zwischen Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden lässt. Veränderungen in der Visualität sind heute auch oft Veränderungen der Realität. Könnten Anja Korherrs Bilder Zeugen der Anfälligkeit der Matrix sein?

 Günther Holler-Schuster

¹Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik, Köln 1965, S. 11.

²Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der Bildlichen Darstellung, Berlin 2014, S. 239.

³Ebda.

 
 

Lebenslauf

Anja Korherr

*29.03.1998, Graz

2013 – 2018 

HTBLVA 

Ortweinschule, Graz, 

(Bildhauerei, abgeschlossen mit Matura)

2018 – 2020 

Meisterklasse Malerei, HTBLVA Ortweinschule, Graz (abgeschlossen mit ausgezeichnetem Erfolg) 

seit 2020 

Studium 

«Experimentelle Kunst» (Klasse Anna Jermolaewa), Kunstuniversität Linz

GRUPPEN-

AUSSTELLUNGEN 

(AUSWAHL)

2024

Surfer, Atelierhaus Schaumbad, Graz;

Initiative Kunstverleih, Akademie Graz, Graz;

Andere Städte, Brno Kasnizcze, Tschechien

2023

No Hope, No Fear, Forum Stadtpark, Graz; 

Molto bene, Molto Bene, Molto bene, Roter Keil, Graz; 

Of Basins and Doors, Memphis, Linz;

Wie eine offene Tür, die uns dahin führt, wo  hinzugehen wir niemals eingewilligt hätten, Rotor Graz;

N_ONSITE, Festival der Regionen,  Österreich/Tschechien;

Showdown/Aftermath, Kunstraum am Schauplatz, Wien;

Feedback/Showdown, Ursulinenhof, Linz;

Initiative Kunstverleih, Akademie Graz, Graz;

Eine Serie von laufenden Serien, Galerie Expfeiffer, Erlangen

2022

Sicherheitsfestspiele, Forum Stadtpark, Graz;

Fokus Raum, Kunsthalle Graz;

Split Scene, Galerie Schnitzler und Lindsberger, Graz;

Models, Domgasse 1, Linz;

Initiative Kunstverleih, Akademie Graz, Graz;

Ich kann nicht mehr 2, Fluc, Wien

2021

Invisible, Flat 1, Wien;

Rundgang 2021, Kunstuniversität Linz, Linz;

Eating Distance, Aotu Space, China (Beijing)

2020

Virtuelle Abschlussausstellung der Meisterklasse Malerei, Ortweinschule, Graz;

Gesichtsfelder, Galerie Centrum, Graz

2019

Gestalt_Geschöpf_Gesicht, Galerie Centrum, Graz

2017

Bohren und das was bleibt, Atelierhaus Schaumbad, Graz

EINZELAUSSTELLUNGEN 

(AUSWAHL)

2023

shifting the stage, Galerie im Pfarrzentrum, Wies

2022

Zwischenräume, Atelierhaus Schaumbad, Graz

PUBLIKATIONEN

2024

Beitrag für «Alles was Blau ist», Spross Magazin

2023

«Der Fluss», Tonto 

2021

Beitrag für  «Bohren VII», Tonto; Beitrag für «Bock Magazin», junge Kunst Graz

2017

Beitrag für  «Genug ist Genug», Tonto (Nr.20)

PREISE UND ANKÄUFE

2023

Kunstförderungspreis der Stadt Graz, Bildankauf der WKO («Der Ursprung»)